Yuvals Lied vom neuen Tag

Erinnerung an Schmerz und Zerstörung, Zeichen der Hoffnung
Israels Beitrag beim Eurovision Song Contest 2025

Von Brigitte B. Nussbächer

Yuval hat das unfassbare Grauen des Hamas-Massakers am 7. Oktober 2023 auf dem Gelände des Nova Festivals überlebt. Aus tiefem Schmerz, dem Verlust geliebter Freunde und dem Mut, weiterzuleben, ist ein besonderes Lied entstanden: das Lied vom neuen Tag. Es ist ein Aufschrei gegen die Dunkelheit, ein Bekenntnis zum Leben – und ein leuchtendes Zeichen der Hoffnung.

Offizielles ESC Foto

Ich wähle das Licht
Ich habe nichts zu verlieren,

Und selbst
Wenn du Lebewohl sagst –
Bleibst du in mir,
Hebst mich empor, trägst mich ins Licht.

Ein neuer Tag wird anbrechen
Die Dunkelheit wird verblassen,

All der Schmerz wird vergehen…

Was es Yuval kostet, diese Zeilen zu singen, ist nicht erahnbar. Es klingt wie ein melancholisches Liebeslied und strahlt doch so viel Hoffnung aus. Kein Wort verrät etwas von der Geschichte der Sängerin, kein Wort lässt erahnen, dass vielleicht mehr als der Bruch einer persönlichen Beziehung gemeint ist. Die unspezifischen Worte geben der ESC-Jury keinen Anlass, dass Lied wegen politischen Inhalten abzulehnen.

Und dennoch verbirgt sich dahinter eine schier unglaubliche Überlebensgeschichte. Denn Yuval hat das furchtbare Massaker der Hamas, vom 7. Oktober 2023, dass den Namen „Al Aksa Flut“ trug, überstanden. Und wenn man das weiß, bekommen die folgenden Worte eine tiefere Bedeutung.

Das Leben wird weitergehen
Jeder weint – Weine nicht allein
Wir werden bleiben
Selbst wenn du dich verabschiedest.
Viele Wasser können die Liebe nicht auslöschen
Auch die Fluten können sie nicht ertränken …

Sie stehen für den Willen der Israelis auch diesmal wieder aus den Trümmern aufzustehen, zu bleiben und das Land ihrer Väter auch nach diesem Schicksalsschlag wieder aufzubauen.

Sie stehen für den Willen Yuvals, ihrem Leben besondere Tiefe zu geben, gerade weil sie dem Tod an jenem Tag ins Auge gesehen hat, weil sie miterleben musste, wie die Menschen um sie herum zu Hunderten ermordet wurden – und dennoch überlebt hat an jenem Morgen auf dem Musikfestival.

Das Musikfestival

Die erste israelische Ausgabe des vor 20 Jahren in Brasilien gegründeten Open-Air-Festivals Supernova Sukkot Gathering, begann am Vorabend des jüdischen Festes Simchat Tora im Oktober 2023. Eine Feier von „Freunden, Liebe und unendlicher Freiheit“. Das kunstvoll dekorierte Gelände sollte wie eine magische Welt wirken. Der Ort ist fünf Kilometer vom Grenzzaun zum Gazastreifen entfernt und wurde nur von privaten Sicherheitskräften und Polizisten geschützt. Doch darüber machte sich keiner Gedanken – bis im Morgengrauen um 6:39 auf einmal die Musik abbrach und Alarmstufe Rot ausgerufen wurde, unzählige Raketen niedergingen und Hamas Terroristen mit Gleitschirmen, Pick-up-trucks und Motorrädern die improvisierte Verteidigung durchbrachen und das Gelände eroberten. Festivalbesucher versuchten sich vergeblich unter Büschen, in Müllcontainern und Toilettenanlagen zu verstecken oder zu ihren PKWs zu fliehen.

Was danach folgte war apokalyptisch: Geiselnahmen und Plünderungen, Vergewaltigungen, Morde! Überall verbrannte Autos und Leichen auf der Straße, rundum nichts als Wüste und tote Körper.

Die Straße der Verlorenen

Zahlreiche Flüchtende versuchten die umliegenden Siedlungen zu erreichen. Doch auch auf den Landstraßen waren die Terroristen unterwegs.

Sanddünen und Felder entlang der Route 232. Foto privat

Route 232 ist die Straße in den Süden, die die ganzen israelischen Ortschaften an der Grenze zu Gaza verbindet.

Es ist eine malerische Strecke. Sanddünen, die daran erinnern, dass wir uns hier in der Negev Wüste befinden und bestellte, grüne Felder wechseln sich links und rechts ab.

Der Horizont ist weit, der Blick schweift ungehindert in die Ferne. Es ist eine Landschaft zum Genießen gewesen – bis zum 7. Oktober.

An diesem Tag wurde Route 232 zu einer Straße des Terrors, auf der Hunderte vergeblich versuchten vor der Hamas zu fliehen. Auch Yuval und ihre Freunde hatten nach dem Abbruch der Party und dem Aufruf zur Evakuierung zunächst diese Option versucht. Sie kamen nicht weit. Die Straße war total verstopft, manche PKWs wendeten. Sie hielten ein Auto an, das in die andere Richtung fuhr und fragten, was los sei. Es wurde ihnen gesagt, dass die nächste Kreuzung von Terroristen besetzt war, die auf alle schossen, die sich näherten. Es gibt unzählige Videos von diesem Tag des Todes, die auf dem Weg von den Angreifern aufgenommen und ins Netz gestellt wurden. Sowohl Feiernde vom Nova-Festival, die versuchten sich in die Ortschaften zu retten, als auch Bewohner der heimgesuchten Kibbuzim, die auf der Flucht waren, wurden brutal niedergemetzelt. Mehr als 110 Menschen wurden hier ermordet, ihre Leichen säumten den Straßenrand.

Die Route 232 erinnert an die Geiseln. Foto privat

Heute ist diese Straße mehr oder weniger verlassen, denn in die stark zerstörten Kibbuzim ist das Leben noch nicht wieder zurückgekehrt. Sie ist zu einer Gedenkstraße geworden – viele gelbe Fahnen erinnern hier an die immer noch in Gaza festgehaltenen Geiseln.

Ein Friedhof, der nicht verstummen kann

Die Nova Gedenkstätte April 2025. Foto privat

Und aus dem Gelände neben dem Kibbuz Re’im, auf dem das NOVA FESTIVAL stattfand, ist eine Gedenkstätte entstanden. Dieser blutgetränkte Boden, der am 7. Oktober mit rund 400 Leichen bedeckt war, schreit noch immer zum Himmel. Kein anderer Ort, an dem das Morden in diesem Ausmaß stattfand, kein anderer Ort, wo die Menschen so wehrlos waren.

Das Nova Gelände nach dem 7. Oktober 2023. Private Fotos von Tafeln

Für jeden, der hier ermordet wurde, hat man eine Gedenktafel errichtet, für jeden wurde ein Baum gepflanzt, als Zeichen des Fortbestehens des Lebens. Und wenn man hier steht und vor sich dicht an dicht diese Tafeln sieht mit den Bildern, die an die Ermordeten erinnern, wenn man in diese jungen, lebensfrohen Gesichter blickt, die der Zukunft so vertrauensvoll entgegensahen, bekommt man eine leise Ahnung davon, was für ein grauenhaftes Massenverbrechen hier begangen wurde. Doch es ist nur eine Ahnung.

Denn nie werden wir, die nicht dabei waren, das Ausmaß der Gräueltaten, die hier begangen wurden, begreifen. Nie werden wir die Agonie nachvollziehen können, die diejenigen empfanden, die versuchten ihr Leben zu retten, die Todesfurcht derjenigen, die sich mit dem Blut anderer beschmierten, um ebenfalls für tot gehalten zu werden oder die sich unter den Leichen anderer versteckten. Die verzweifelt um Hilfe flehten, die nicht kam. Die mit ansehen mussten, wie andere niedergemetzelt, wie sie vergewaltigt und verstümmelt wurden. Viele davon haben mit diesen Bildern nicht weiterleben können und später Selbstmord begangen.

Heute liegt der große, stille Platz unter einer strahlenden Sonne. Besucher gehen leise von Bild zu Bild. Manchen laufen die Tränen über die Wangen – auch heute noch. Rund herum sind Stühle aufgestellt, die Angehörigen können herkommen und versuchen, hier ihren verstorbenen Liebsten nahe zu sein. Auch Soldaten besuchen diesen Ort regelmäßig – um zu begreifen, was geschah und um zu wissen, wofür sie kämpfen: damit sich ein 7. Oktober nie wiederholen kann, auch wenn das weiterhin das zentrale Ziel der Terrororganisation Hamas bleibt, welches sie gerne laut und deutlich wiederholt.

Tafeln, die individuelle Schicksale schildern. Fotos privat.

Informationstafeln wurden aufgestellt, die versuchen, in kargen Worten festzuhalten, was sich ereignete. Aber vor allem zeigen viele der individuellen Gedenktafeln mittlerweile nicht nur ein Gesicht und einen Namen, sondern erzählen auch eine kurze Geschichte. So bleibt die Erinnerung an alle diese Opfer lebendig und so sind es nicht einfach nur Zahlen und Informationen. Die individuellen Schicksale, die dahinterstanden, werden erahnbar, wenn man diese Inhalte liest.

Doch die Ruhe ist trügerisch. Während wir im April 2025 hier stehen, zerreißen plötzlich ohrenbetäubende Detonationen die Stille. Man möchte in Deckung gehen, doch dafür ist es schon zu spät. Auf diesem Platz hat man 15 Sekunden Zeit, um Zuflucht zu suchen. 15 lächerliche Sekunden, bis die Rakete einschlägt. Und die Bunker, die hier stehen, bieten allenfalls Schutz vor Flugkörpern, gegen heranstürmende Terroristen waren sie wirkungslos. Im Gegenteil, sie wurden zu Todesfallen, in denen am 7. Oktober Dutzende auf einmal ermordet wurden.

Yuval

Offizielles ESC Foto

Auch Yuval hatte auf diesem Musikfestival getanzt. Nachdem sie erfahren hatte, dass die Fluchtwege besetzt waren, hatte auch sie sich mit vielen anderen in einen öffentlichen Luftschutzbunker am Straßenrand geflüchtet, der jedoch von den Terroristen entdeckt und mit Handgranaten angegriffen wurde. Die Schüsse und Explosionen töteten fast alle darin. Sie überlebte nur, weil sie sich unter den Leichen anderer versteckte und unbewegt ausharrte – viele Stunden lang! Eine fürchterliche Ewigkeit lang. Wie schwer ist eine Leiche, die auf einem liegt? Wie fühlt es sich an, wenn fremdes Blut auf einen tropft? Nur ein knappes Dutzend überlebten von den 40-50 Jugendlichen, die sich hier zusammengepfercht hatten.

Wie lebt man nach so einer Erfahrung weiter? Wie geht man damit um? Yuval nahm therapeutische Hilfe in Anspruch, um mit den inneren Wunden und der grausamen Erinnerung leben zu lernen.  Aber woher nimmt man den Mut, nicht nur irgendwie weiterzumachen, sondern ins Rampenlicht zu treten und eine Stimme für Israel zu sein? Sie wird den 7. Oktober nie vergessen können, aber Trauma und Schmerz können sie nicht aufhalten. Yuval fand trotz all des Grauens die innere Kraft wieder aufzustehen.

Und mehr als das. Dass sie darüber berichtet, was am 7. Oktober geschah, ist ihre Art zu kämpfen. In der Situation damals war sie hilflos – aber jetzt versucht sie mit ihren Worten und Botschaften dafür zu sorgen, dass so etwas niemals wieder vorkommen wird. Darüber zu sprechen, gibt ihr Kraft. Ihr Leben, ihr Überleben soll eine Botschaft der Hoffnung sein. Und so vertritt sie rund anderthalb Jahre später Israel am 15 und 17 Mai 2025 beim Eurovision Song Contest in der Schweiz und damit vor der ganzen Welt. Was für eine Resilienz!

Auch wenn es noch nicht vorbei ist, auch wenn immer noch 59 Geiseln in Gaza festgehalten werden und der Krieg daher immer noch andauert, singt sie davon, dass ein neuer Tag anbricht, der Beginn einer neuen Zukunft. Menschen wie sie sind diejenigen, die dazu beitragen, dass Israel nach jeder Katastrophe wieder aus der Asche aufsteht. Am Israel Chai – Israel lebt!

„Ein neuer Tag wird anbrechen, das Leben wird weitergehen! …
Die Dunkelheit wird verblassen, all der Schmerz wird vergehen
Und wir werden bleiben, auch wenn du dich verabschiedest“

Brigitte Nussbächer und ihr Mann Harald Bottesch sind regelmäßig in Israel und unterstützen Familien, die von dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 direkt betroffen waren: Witwen und Waisen, Traumatisierte und Evakuierte. Auf ihrer Webseite www.arc-to-israel.org berichten sie über aktuelle Themen aus Israel.

Weitere Artikel von Brigitte B. Nussbächer unter: www.arc-to-israel.org/artikel