Oasen des Lebens – Therapiezentren in der Wüste

Hoffnung säen, Resilienz ernten

Teil 3 aus dem Zyklus: Facetten der Wiederherstellung (Heilung für Traumatisierte)

Von Brigitte B. Nussbächer

Als Nir 2016 einen furchtbaren Terroranschlag miterlebte, beschloss er sein Leben einem tieferen Sinn zu widmen. Er gründete Therapiehöfe mitten in der endlosen Weite der Negev Wüste, die traumatisierten und gefährdeten Menschen eine Zuflucht bieten – einen Raum, in dem Wunden heilen dürfen, Herzen wieder lernen zu vertrauen und Seelen neue Kraft schöpfen. Tausende haben bereits neuen Lebensmut gefunden. Tausende warten noch auf ihre Chance. Hilf mit, Hoffnung Wirklichkeit werden zu lassen.

Terror in Tel Aviv

Nir Amitai, Gründer der Therapie Zentren. Foto privat

Begonnen hat es mit einer Tragödie. Am 1. Januar 2016 verübte ein Palästinenser einen Terroranschlag in der HaSimpta Bar in Tel Aviv, bei dem zwei Israelis getötet und 4 weitere verwundet wurden.

Nir, war auch dort, er blieb äußerlich unverletzt. Doch als eines der Opfer an dem furchtbaren Tag in seinen Armen starb; war dies eine Erfahrung, die einen Wendepunkt einläutete. Er fällte die Entscheidung, der Stimme seines Herzens zu folgen und sein weiteres Leben einer sozialen Tätigkeit im Negev widmen.

Hoffnung säen

Der 2020 gegründete Rimon Hof. Foto privat

Als erstes gründete er 2020 den Rimon Hof für gefährdete Jugendliche fernab von den dicht besiedelten Ballungsräumen im Zentrum und im Osten des Landes – im Süden Israels, im Negev. Dafür, dass es eine Wüste war, ist es unglaublich grün hier. Israel hat den Traum vom Staatsgründer David Ben Gurion, den Negev zum Blühen zu bringen, erfolgreich mit Tröpfchenbewässerung umgesetzt. Links der Straße grünen die Weinberge, rechts wogen die Ähren. Ein weiter Himmel wölbt sich über das Land und der Lärm, der Stress und die Hektik der Städte ist fern. Hier kann man anders atmen und die Ruhe legt sich wohltuend auf das Gemüt.

2023 wurde dann als zweites die Lahav-Farm gegründet, für Menschen die unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden – ursprünglich geplant für rund 80 Personen: Zelte, Beete, Weingärten und weite grüne Hügel. Das Land dafür haben sie vom Kibbuz Lahav erhalten. Tatsächlich wurden seit dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 mehr als 4000 Menschen dort behandelt! Und der Bedarf ist weiterhin enorm groß. So entstand 2024 der zweite Hof für posttraumatische Therapien: der Shekef Hof.

Nirs großes Vorbild ist niemand Geringerer als David Ben Gurion, der schon vor 70 Jahren vielversprechende Pläne für diesen Landstrich hatte, dem er sehr viel Potential zuschrieb. Und tatsächlich spürt man den Pioniergeist der Gründungszeit auf den Höfen: den Willen, hier etwas Bedeutsames zu schaffen, den Zusammenhalt, die Vision. Wie in jenen Tagen ist der Alltag hier einfach, man lebt in Zelten.

Die landwirtschaftliche Arbeit fordert harten Einsatz, doch als Belohnung entsteht hier neues Leben und genau das hat einen heilenden Einfluss auf die Betroffenen. Zu sehen, wie die kleinen Pflänzchen wachsen, wie Lämmer und Kälber geboren und groß werden, all das ist ein Zeugnis der Kraft der Erneuerung und vermittelt die Hoffnung, dass auch in verwundeten Seelen Neues entstehen kann. Die Arbeit mit Pflanzen und Tieren in der Natur schafft eine heilende Verbindung zwischen Körper und Geist und hilft Selbstwirksamkeit zu erleben, das Selbstvertrauen zu stärken, Erfolgserlebnisse zu schaffen und ein Gefühl von Kontrolle und Hoffnung zurückzugewinnen.

Hier werden Therapie, Bildung und Rehabilitation auf einzigartige Weise miteinander verbunden: In einer inspirierenden Umgebung erfahren die Teilnehmenden emotionale Heilung, begleitet von einer unterstützenden Gemeinschaft.  Soziale Kompetenzen werden gestärkt und mit maßgeschneiderten Plänen, die auch Familie und Gemeinschaft einbeziehen, werden sie individuell gefördert.

Auf diese Art werden gleich drei wesentliche Ziele erreicht: die Heilung und Stärkung der Menschen, die Erschließung und Bepflanzung des Landes, sowie die Förderung der Wüstenregion Negev.

Gruppentherapie auf der Lahav Farm. Foto privat

Nir meint: „Wir können es uns nicht erlauben, aufzuhören zu träumen“, denn die Auslebung dieses Traumes ist die Grundlage der Wiederherstellung von so vielen. Sie nehmen jeden in die Programme auf, der anfragt: Sicherheits-, Notfall- und Rettungskräfte, medizinisches Personal, Polizei, Soldaten, Terroropfer.

Menschen, die extremen Belastungen ausgesetzt waren, die im Einsatz über ihre Grenzen hinausgehen mussten, die durch intensive Kampferfahrungen, den Verlust von Kameraden oder durch Verletzungen traumatisiert sind; die Schwierigkeiten haben, in ein normales Leben zurückzufinden und eine Brücke zurück in den Alltag suchen.

Begegnung im Wüstenwind

Unser Besuch im April 2024 auf der Lahav Farm. Foto privat
Unser Besuch im April 2024 auf der Lahav Farm. Foto privat

Unser Kontakt zu den Rimon Therapie Höfen entstand über „Israel Today“. Hier erfuhren wir von dieser beeindruckenden Arbeit. Jetzt endlich haben wir diese Oasen der Hoffnung persönlich kennen gelernt. Die Landschaft, die Stimmung, der Umgang miteinander fasziniert uns von der ersten Minute. Nir, der Gründer, Tal, die Resources Development Koordinatorin und Hemia, eine PS.chiaterin kommen mit uns in der „Freilichtküche“ des Lahav-Hofes zusammen. Um uns herum grüne Weite, Stille, ein leichter Wind streichelt die Wangen.

Und mit uns an dem Tisch sitzen Menschen mit markanten Gesichtern, warmen Augen und voller Intensität. Die Kommunikation ist offen, direkt und herzlich. Small Talk ist nicht erforderlich – wir haben das gemeinsame Ziel, Menschen, die durch das Massaker vom 7. Oktober in der einen oder anderen Weise verletzt wurden, zu helfen. Wir und sie berichten von unseren Initiativen seither und spüren: wir sind schon lange Verbündete – auch ohne uns zu kennen.

Wir stellen unsere Arbeit vor. Foto privat

Besonders beeindruckend für uns ist es, das persönliche Zeugnis von Gil, einem Kommandeur zu hören, der davon spricht, was für einen Unterschied ein paar Tage hier auf der Farm für seine Männer bewirken. Hier können sie posttraumatischem Stress vorbeugen, sich in einem geschützten Rahmen austauschen, hier finden sie Verständnis und können neue Kraft tanken, um dann in ihren Alltag zurückzukehren.

S. (Name geändert)

Dann setzt sich ein Mann zu uns. Er lächelt freundlich, doch gleichzeitig ist das Lächeln herzzerreißend. In seinen Augen ist Wärme, aber auch ein Schrei. Wir erfahren bald, wieso. Er ist einer, der auf dieser Farm daran arbeitet, langsam heil zu werden. Früher lebte er in einem Kibbuz neben dem Gazastreifen. Früher, das gehört für ihn zu einer anderen Zeitrechnung.

S. Foto privat

Das war vor dem 7. Oktober. Er war ursprünglich ein Bauingenieur. Weil ihn das nicht erfüllte, wurde er zum Farmer und zog mit seiner Frau in den Kibbuz, weil es keinen besseren Ort gibt, um eine Familie zu gründen. Sie waren glücklich und haben das Leben in der engen Gemeinschaft genossen. Seine Frau arbeitete als Lehrerin und ihre Kinder, die inzwischen 7 und 10 Jahre alt sind, wuchsen dort auf. Heute sind sie evakuiert und leben in Kiryat Gat

Zunächst spricht er nicht davon, was er am 7. Oktober erlebte. Er erzählt, wie wichtig es für ihn ist, zu der Lahav Farm zu kommen. Es ist der einzige Ort, für den er seine Wohnung verlässt. Ansonsten vermeidet er es. Aber hierher kommt er gerne 2-3 mal pro Woche. Denn er hat Vertrauen zu seinen Betreuern gefasst, die ganzen Monate haben ihm bewiesen, dass ihre Empathie und ihr Wunsch, ihm beizustehen, echt sind. Am Anfang war er skeptisch, aber zu seinem Erstaunen hat er erlebt, dass immer jemand für ihn da ist und dass ihn die Menschen hier aufbauen. Dass keine Forderungen an ihn gestellt werden, dass er sein eigenes Tempo bestimmen kann und nichts verbergen muss. Er merkt, dass die Gespräche, die landwirtschaftliche Arbeit und das Zusammensein mit anderen, die ähnliches erlebt haben, ihm guttun. Er ist in einer kleinen Gruppe von Menschen, die alle an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Hier braucht er keinem zu erklären, was es heißt, eine schlimme Nacht zu haben. Hier hält ihn keiner für seltsam. Und das gibt ihm Geborgenheit und die Möglichkeit sich zu öffnen. Die Ruhe und die Weite hier sind ebenfalls heilsam. Und so ist die Lahav Farm für ihn zu einem Zufluchtsort geworden, eine Motivation, den nächsten Tag in Angriff zu nehmen und aus dem Bett aufzustehen. Sein Zeugnis macht den Wert der Arbeit, die hier geleistet wird, sehr deutlich.

Nir Oz

Und dann stellt sich heraus, dass er aus dem Kibbuz Nir Oz stammt. Dieser Name legt sich wie Eis auf unser Herz. Ohne es zu wollen oder zu planen haben wir seit dem 7. Oktober immer und immer wieder ehemalige Bewohner aus Nir Oz getroffen. Die ersten waren Smadar und Shlomo. Smadars Bruder Avner lebte mit seiner Frau Maya und 4 Kindern dort. Sowohl Avner als auch Maya wurden ermordet. Maya Leiche wurde nach Gaza verschleppt.

Das verwüstete Kibbuz Nir Oz betrauert viele Tote. Foto privat

Ich schrieb „Bring Maya Home Now“ und der Artikel ging um die Welt. Dann kam unser Projekt für die israelischen Waisenkinder. Und wieder kamen wir mit Familien aus Nir Oz in Kontakt: Sigal, Hadas und ihre Kinder.

Als wir erwähnen, dass wir Kontakt Familien von dort haben, möchte er sofort wissen, wen und es stellt sich heraus – er kennt sie alle. Maya und Avner waren seine Nachbarn, Tamir, Hadas Mann, dessen Leiche immer noch in Gaza festgehalten wird, war sein Freund, ein ganz besonderer Mensch, den jeder mochte, voller Frohsinn. (Die Geschichte von Hadas und Tamir). Und Dolev, Sigals Mann „traf“ S. noch am 7. Oktober während des Massakers, als beide versuchten die Terroristen abzuwehren. Dolev half ihm in einer sehr schwierigen Situation, die er nicht näher beschreibt.


Danach verbarrikadierte sich S. mit seiner Familie im Bunker. Er blieb bei ihnen, weil seine Frau ihn inständig bat, nicht mehr hinauszugehen, als er sich wieder aufmachen wollte. Heute ist er sich nicht sicher, ob er richtig gehandelt hat. Er hat das quälende Gefühl, an jenem schwarzen Schabbat seine Freunde Tamir und Dolev im Stich gelassen zu haben. Was ist richtig in so einer Situation, wer kann das beurteilen, wer kann das sagen? Niemand war auf diese Situation vorbereitet. Niemand hat jemals damit gerechnet von Hunderten von Terroristen überfallen zu werden. Niemand hätte es für möglich gehalten, dass die Armee erst ankam, als das Blutbad, die Brandstiftung, die Entführungen durch die Terroristen schon vollzogen waren und diese zum nächsten Ort, auf der Suche nach neuen Opfern, aufgebrochen waren.

Ein besonderer Mut

S. und seine engste Familie haben überlebt, aber heil sind sie nicht geblieben. S.s Schwiegervater und viele seiner Freunde wurden brutal ermordet, Nir Oz besteht fast nur noch aus einem Haufen von verbrannten Ruinen. Alles, was sie erträumt hatten, alles, was sie sich aufgebaut hatten, liegt in Trümmern. Wie lebt man danach weiter? Wie kann man wieder Mut fassen oder Hoffnung haben? Das versucht S. auf dem Lahav Hof zu lernen.

Man sieht es ihm an, wie schwer es für ihn ist, über diese Themen zu sprechen. Er behält seine Selbstbeherrschung, aber trotz seines Lächelns zuckt sein Gesicht und man spürt die ungeweinten Tränen. Der Schmerz und die Qual, die immer wieder in seinen Augen aufblitzt, sprechen Bände.

Das Gespräch ist viel intensiver und tiefer geworden, als es einer von uns gedacht hätte. Die Tatsache, dass wir uns schon seit Monaten für Bewohner seines Ortes engagieren, hat uns anscheinend in seinen Augen Authentizität verliehen und ihm Vertrauen eingeflößt.

Wir sind erschüttert, beeindruckt und können ihm seine Offenheit gar nicht hoch genug anrechnen. Und als wir uns nach ein paar Stunden verabschieden, tun wir es nicht mehr als Fremde – sondern als Freunde mit einer herzlichen Umarmung.

Erst später wird uns klar, wie schwer es für ihn gewesen sein muss, sich überhaupt an einen Tisch mit uns zu setzen und mit uns zu sprechen. Wieviel Überwindung und Tapferkeit dafür von seiner Seite nötig war, aus dem Schatten der Geborgenheit Unbekannten gegenüberzutreten. Doch seine Bereitschaft dazu und seine Ehrlichkeit haben es uns ermöglicht, die Tragödie von Nir Oz noch besser zu verstehen, aber vor allem auch ganz konkret die Arbeit vom Lahav Hof bzw. die Erfolge dieser Therapien mitzuerleben. Denn S. hat hier in den letzten Monaten große Fortschritte gemacht, die Ausblick auf seine Heilung geben und auf eine Zukunft mit Hoffnung und Licht – auch wenn er nie vergessen wird. Und es gibt noch Tausende wie ihn, die hier wieder leben lernen.

Das Ziel der Therapie-Zentren: neues Leben. Foto Shutterstock

Die Aufgabe, die sie sich Nir und seine Mitarbeitenden gestellt haben, ist gigantisch – doch das potenzielle Ergebnis beflügelt alle, die sich hier engagieren! Sie säen, oft mit Tränen, im Vertrauen darauf, Resilienz und eine starke Zukunft zu ernten.                            

Denn das Ziel dieser Höfe ist eine Neuauflage der uralten, sich wiederholenden Geschichte Israels: aus Asche und Trümmern neu aufzustehen und am Ende über noch mehr innere Kraft und Lebensmut zu verfügen.

Die Geschichte von den Therapiezentren ist Teil des Zyklus: Facetten der Wiederherstellung. Brigitte Nussbächer und ihr Mann Harald Bottesch sind regelmäßig in Israel. Aktuell ist ihr Schwerpunkt Familien zu unterstützen, die von dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 direkt betroffen waren: Witwen und Waisen, Traumatisierte und Evakuierte. Bei ihrem letzten Israel-Einsatz im April 2025 haben sie erneut Betroffene besucht und Verbindungen mit spezialisierten Organisationen vor Ort geknüpft um spezifisch, langfristig und nachhaltig zu helfen.

Weitere Artikel von Brigitte B. Nussbächer unter: www.arc-to-israel.org/artikel