Sigal – der Funke Lebenswillen

Die Organisation für Witwen & Waisen (IDFWO)

Teil 6 aus dem Zyklus: Facetten der Wiederherstellung (Perspektiven für Witwen & Waisen)

Von Brigitte B. Nussbächer

Sigal und ihre Kinder. Foto Sigal privat
Sigal und ihre Kinder. Foto Sigal privat

Ihre Liebe begann wie eine von den Sternen geflüsterte Geschichte: Sigal und Dolev, zwei Seelen, die unter einem offenen Himmel träumten, bis an einem erschütternden Tag alles zerbrach. Dennoch – der Kreislauf des Lebens geht weiter und seit dem 7. Oktober 2023 kämpft Sigal um eine Zukunft und ein neues Zuhause für ihre Kinder zu schaffen, in denen Dolevs Erbe erhalten bleibt.

Wie im Märchen

In dem traumschönen Kibbuz Nir Oz am Rande des Gazastreifens, der 1955 gegründet worden war, wuchsen Sigal und Dolev auf. Es war eine kleine, eng verbundene Gemeinschaft, in der die Grenzen zwischen Verwandten und Freunden verschwammen – jeder kannte jeden, schon Dolevs Vorfahren hatten hier gelebt. Sein Urgroßvater war zwei Jahre nach der Machtergreifung der Nazis aus Deutschland geflohen und hatte sich in Israel ein neues Leben aufgebaut. Zuletzt im Kibbuz Nir Oz.

Es war ein Ort, an dem man sich Träume bewahrt hatte und sie lebte: Die Idee von einem besseren Leben, fernab von Stress und Hektik, inmitten von Schönheit, Blumen und Vogelgezwitscher; das Ideal von geteilter Freude und Leid innerhalb einer Gemeinschaft und die Vision von Frieden.

Ein Bild aus früheren Zeiten. Foto Sigal
Ein Bild aus früheren Zeiten. Foto Sigal

Schon früh wussten Sigal und Dolev, dass sie füreinander bestimmt waren und so waren sie seit ihrem 12. Lebensjahr zusammen. Gemeinsam entdeckten sie das Leben, aus Freundschaft wuchs Liebe. Dolev wurde ein erfolgreicher Bauingenieur, der in der Qualitätskontrolle tätig war und Sigal fand ihre Erfüllung im Lehrerberuf. Bald gründeten sie eine Familie. Zuversicht und Lebensfreude waren die Pfeiler ihres Zusammenseins, sie liebten das Lachen.

Ein kleines Paradies, dessen Glück durch die häufigen Raketenangriffe aus dem 2 km entfernten Gazastreifen, nur marginal getrübt wurde. Man hatte gelernt mit der Bedrohung zu leben. Es gab Bunker, in die man sich retten konnte und Dolev machte eine zusätzliche Ausbildung zum medizinischen Ersthelfer. Er diente danach als Freiwilliger sowohl bei der Magen David Adom als auch bei United Hatzalah und war bekannt dafür, dass er sich bei jedem Zwischenfall oder Anruf sofort auf den Weg machte. Auch wenn er dadurch oft mit Leid konfrontiert wurde, bewahrte er sich seinen Frohsinn. Die Tatsache, dass er helfen konnte, gab ihm Antrieb und Erfüllung.

Der 7. Oktober 2023

Auch am 7. Oktober war es für ihn selbstverständlich, nicht seine eigene Sicherheit in den Vordergrund zu stellen.

Als die Sirenen aufheulten und nicht mehr aufhören wollten, brachte er Sigal und die drei Kinder Raz, Yotam, Ron (im Alter von 7, 6 und 3 Jahren) in den Schutzraum. Er selbst aber ging hinaus, um Leben zu retten, wie er das schon bei unzähligen Raketenangriffen aus dem Gazastreifen getan hatte.

Es war der Anfang vom Ende des Lebenstraumes den Dolev und Sigal gelebt hatten.

Sigal, die im neunten Monat schwanger war, blieb mit ihren Kindern neun Stunden lang in dem Schutzraum. Der Kontakt zu Dolev war abgebrochen. Trotz ihrer brennenden Sorge gelang es Sigal den Kindern Ruhe zu vermitteln, auch wenn sie ohne Essen und Wasser auskommen mussten und sie zusätzlich befürchtete, dass die Wehen einsetzen würden. Sie überlebten, weil ihr Bunker, anders als die meisten anderen Schutzräume der Gegend, verschließbar war.

Das Geschwisterpaar Arbel und Dolev
Das Geschwisterpaar Arbel und Dolev

Als die IDF gegen 16:00 Uhr die Überlebenden in den Kindergarten des Kibbuzes brachte, um sie von dort zu evakuieren, fehlte von Dolev jede Spur. Mit jeder Stunde, die verging, wurde die Angst um ihn größer, eine Angst, die Sigal vor den Kindern zu verbergen versuchte. Da es auch in den Folgetagen kein Lebenszeichen von ihm gab und keine identifizierbaren Überreste gefunden wurden, nahm man an, dass er entführt worden sei. Und das Entsetzen wuchs, als klar wurde, dass auch Dolevs Schwester Arbel fehlte. Jeder vierte aus Nir Oz war entweder entführt oder ermordet worden.

Keine Familie, die nicht betroffenen gewesen wäre, insgesamt nur 6 Häuser, die bei dem brutalen Massaker der Hamas nicht beschädigt und zerstört wurden! Das Paradies von einst bestand jetzt aus Asche und Trümmern und die Erde war getränkt vom Blut der Opfer.

Die Überlebenden fanden sich in einer Wirklichkeit wieder, die ein Alptraum war. Sigal hatte ihr Zuhause verloren, ihren Besitz. Bei der Evakuierung hatten sie in Eile und Gefahr nur das Notwendigste mitnehmen können. Die massiven Angriffe der Hamas gingen ungemindert weiter. Es dauerte rund 2 Wochen, bis die IDF das von der Hamas eingenommene israelische Terrain wieder unter voller Kontrolle hatte.

Sigal kämpfte gegen ihre atemraubende Angst, die aufsteigende Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zu kämpfen. Neun Tage nach dem Massaker setzten die Wehen ein und am 16. Oktober brachte Sigal ihre Tochter zur Welt. Alleine, in der Fremde. Es wurde eine in jeder Hinsicht schwere Geburt. Schwarze Stunden von einer erstickenden Qual und Einsamkeit, die keiner nachvollziehen kann.

Doch dies kleine neue Leben inmitten all des Verlustes und der Vernichtung war auch ein Lichtblick, ein starkes Hoffnungssignal für die Zukunft. Sigal nannte die Kleine „Dor“. Dieser Name leitet sich vom hebräischen Wort für „Generation“ ab und ist untrennbar mit dem Erbe verbunden, das von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. Er steht für den Zyklus des Lebens, Kontinuität, und überbrückt dadurch Raum und Zeit. Außerdem enthält er die gleichen Anfangsbuchstaben wie Dolev und drückt damit aus, dass Dolev in Dor weiterlebt.

Nachdem sie wieder etwas zu Kräften gekommen war, beteiligte Sigal sich an den Anstrengungen von Dolevs Eltern, einflussreichen Politikern von dem Schicksal ihrer Familie zu erzählen und sie um Unterstützung bei der Befreiung von Dolev und Arbel zu bitten – obwohl sie nicht wusste, ob irgendetwas von dem, was sie tat, am Ende einen Unterschied ausmachte. Aber durch das Aktiv-Sein hielt sie ihre Hoffnung am Leben. Der Geiseldeal im November 2023 kam, aber keiner der beiden wurde frei gelassen. Sie fürchtete sich vor dem Aufwachen, und jede Stunde schien unendlich lang, aber sie kämpfte weiter – jeden Tag.

Als die Hoffnung zerbrach

Weil es der IDF nicht gelungen war, Hinweise bezüglich Dolevs Aufenthalt im Gazastreifen zu erhalten, beschlossen sie Ende Mai, die bisher nicht identifizierten Überreste, die in Nir Oz gefunden wurden, neu zu bewerten. Die Identifizierung der Opfer war in vielen Fällen nahezu unmöglich, da die Leichen von den Terroristen stark verbrannt oder verstümmelt worden waren. Mit Hilfe forensischer und anthropologischer Experten konnte jedoch schließlich bestätigt werden, dass Dolev am 7. Oktober ermordet worden war.

Dolevs Grab in Nir Oz. Foto privat.
Dolevs Grab in Nir Oz. Foto privat.

Für Dolevs Eltern und Sigal brach die Welt zusammen. Erstickendes Dunkel legte sich auf ihre Seelen. Für Sigal war eine Zukunft ohne ihn undenkbar:

„Ich stehe hier, und du bist nicht an meiner Seite. Nicht hier, um meine Hand zu halten. Nicht hier, damit ich mich auf dich stützen kann, damit du mich auffängst, damit ich nicht falle. Ich hatte immer das Gefühl, dass du und ich für immer zusammengehören, wie im Märchen, dass uns nichts passieren kann. Du lebst so sehr in mir, aber du fehlst mir so sehr… Du bist mein ganzes Leben, meine ganze Welt. Eine Welt, die zerbrochen ist. Eine Welt, die zerstört wurde. Es wird immer eine Leere in meinem Herzen geben, eine Leere mit deinem Profil“.

Dolev wurde am 4. Juni 2024 in Nir Oz beigesetzt. Sein Grab ist eine in Stein gemeißelte Liebeserklärung von Sigal und seinen Kindern: originell, einzigartig, wunderschön!

Der Funke Lebenswille

Alles, was einst Leben ausgemacht hatte, ist seit Monaten verloren, die Farben verblasst, das Lachen erstickt.

Doch: da sind die Kinder, die Sigal so dringend brauchen, die das Trauma vom 7. Oktober noch in sich tragen, mit einem schrecklichen Verlust fertig werden müssen, bzw. ihren Vater niemals erleben werden, denen sie Mutter und Vater sein muss. Da ist Arbel, die kleine Schwester von Dolev, die seit Monaten Unerdenkliches in den Terrortunneln erleidet und die auf ihre Befreiung hofft.

Unter diesen Umständen bleibt Sigal wenig Zeit zum Trauern. Doch wo und wie kann man beginnen, die Scherben seines Lebens wieder zusammen zu setzen?

Sigal und ihre Kinder. Foto Sigal privat
Sigal, Witwe von Dolev, mit ihren Kindern: Raz, Yotam, Ron und Dor. Foto privat Sigal

Sigal möchte nicht wieder nach Nir Oz zurück. Die Kinder haben zu deutliche Erinnerungen an die schrecklichen Stunden und auch sie selber möchte nicht mehr so nahe an der Grenze leben. Die Ohnmacht jenes Tages, das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit, die Tatsache, dass sie keine Kontrolle mehr über das eigene Leben hatte, haben sich tief in ihre Seele eingebrannt. Sie hat das Vertrauen verloren, sowohl zu dem eigenen Staat, der sie nicht geschützt hat, als auch zu den Gazanern, deren Hamas Kämpfer das schrecklichste Pogrom seit dem Holocaust – mitten in Israel! – verübten.

Aber ein Kibbuz soll es wieder sein. Sie sehnt sich nach dem Grün, den Rasenflächen und den Blumen – und nach einer Gemeinschaft, die zur Familie wird. Und so reist sie im Herbst 2024 in die Vereinigten Staaten, um dort für die Unterstützung und Finanzierung eines Neuaufbaus zu werben.

Treffen mit Sigal und Hadas im April 2025 in Kiryat Gat. Foto privat
Treffen mit Sigal und Hadas im April 2025 in Kiryat Gat. Foto privat

Wir lernen Sigal im Herbst 2024 kennen. Aufgrund unseres Projektes, mit dem wir Waisenkinder des 7. Oktobers unterstützen, haben wir Verbindung mit offiziellen israelischen Stellen aufgenommen, die den Kontakt zu Sigal herstellen.

Im April 2025 kommt es dann zu der ersten persönlichen Begegnung mit ihr und Hadas, deren Geschichte: „Hadas – Trauer, die auf ein Ende wartet“ ich bereits erzählt habe.

In Kiryat Gat, dem Ort, in dem sie seit Monaten mit ihren Kindern in einem Hochhaus lebt – immer noch provisorisch, immer noch evakuiert – steht uns eine große, schlanke, gut aussehende Frau mit hellen Augen gegenüber. Auch ihre Vorfahren waren Holocaustüberlebende – aus Czernowitz (Ukraine), die zunächst nach Brasilien und Argentinien geflohen waren. Ihre Eltern kamen dann nach Israel. Um hier eine sichere Heimat zu finden – ein Gedanke, der nach dem 7. Oktober wie eine Illusion klingt.

Wir freuen uns bei der Begegnung zu sehen, dass wieder mehr Leben in ihre Mimik und in ihre Augen zurückgekehrt ist. Als ich sie das erste Mal virtuell sah, konnte ich die Tränen kaum zurückhalten. So hoffnungslos, versteinert und voller Schmerz wirkte ihr Gesicht. Wenn sie jetzt erzählt, spürt man die Stärke, die in ihr lebt. Und manchmal kommt für Augenblicke ein Funkeln und Schalk in ihre Augen, die uns ahnen lassen, wie sie früher war.

Ein neues Zuhause

Das Leben geht weiter – auch wenn es an vielen Tagen nur ein Überleben ist. Doch Sigal hat ein klares Ziel: dass ihre Kinder trotz allem eine lebenswerte und lichterfüllte Zukunft haben werden – und ein neues Zuhause. Rund 40 Familien aus Nir Oz wollen nach Beit Nir ziehen: darunter auch Sigal und Hadas. Die Zustimmung der dortigen Einwohner haben sie erhalten. Und so soll die Erweiterung des Ortes in Angriff genommen. 2027 hoffen sie, in diesem Kibbuz, der deutlich weiter von der Grenze entfernt ist, eine neue Heimat zu finden.

Dor, der Sonnenschein der Familie. Foto Sigal
Dor, der Sonnenschein der Familie. Foto Sigal

Eine schöne Wende gab es Ende Januar 2025: Dolevs Schwester Arbel, wurde im Rahmen des damaligen Geiseldeals gegen eine Vielzahl verurteilter, palästinensischer Straftäter freigelassen. Die Umstände waren bis zur letzten Minute dramatisch: sie wurde von ihren Geiselnehmern bei einer Terrorpropaganda-Veranstaltung vorgeführt und durch eine tobende, drohende Menge geschoben. Doch schließlich war sie frei. Nach 572 Tagen! Sigal meint, dass ihre Schwägerin stärker und entschlossener aus der Gefangenschaft zurückgekommen ist. Trotz aller oder gerade wegen der erlittenen Qualen!

Und die kleine Dor ist der Sonnenschein der Familie. Sie ist die Einzige, die keine furchtbaren Erinnerungen hat – dafür aber das sonnige Wesen ihres Vaters und Augen, die genau wie seine leuchten. Ihr Frohsinn erhellt die Tage der anderen – sie gesund und munter aufwachsen zu sehen, ist ein Triumpf des Lebens über Tod und Terror. Sie verkörpert die Bedeutung ihres Namens: in ihr und in den anderen Kindern lebt Dolev weiter. Sigal meint, dass die Kleine die stärkste von ihnen allen sei und ein Ansporn, eine Rettung für sie.

Ein langer Weg

Lebe wohl, Sigal. Wir sehen uns bald wieder. Privates Foto
Lebe wohl, Sigal. Wir sehen uns bald wieder. Privates Foto

Wird Israel irgendwann wieder Frieden haben? Noch immer sind 58 Geiseln in der Gewalt der Hamas. Die Terrororganisation lässt lieber den gesamten Gazastreifen zerstören, als die israelischen Zivilisten, die sie vor mehr als 1,5 Jahren gewaltsam entführt hat, freizugeben. Immer noch wird Israel angegriffen. Erst Anfang Mai 2025 schlug eine Rakete aus dem Jemen, die nicht abgefangen werden konnte, nahe dem Flughafen Ben Gurion ein. Nicht auszudenken, was gewesen wäre, hätte sie die Ankunfts- oder Abflughalle getroffen. Israel wehrt sich mit aller Macht, aber sowohl die innere Kraft, als auch die Unterstützung durch andere Länder nimmt immer mehr ab.

Noch liegt ein weiter und schwerer Weg vor Sigal. Ihr Leben wieder neu aufzubauen, alleine aufzubauen, wird viel Kraft kosten. Wird die Leere in ihrem Herzen, die durch Dolevs Tod entstanden ist, irgendwann weniger schmerzen? Werden die schrecklichen Träume und Erinnerungen verblassen? Wird sie wieder vertrauen lernen?

Trotz allem Leid, gibt es Lichtfunken, die einen Weg durch das Dunkel in kommende Zeiten weisen. Denn wir spüren die Entschlossenheit in Sigal, nicht aufzugeben. Für ihre Kinder! Als wir sie fragen, wie wir helfen können, kommt die Antwort prompt: helft mir, eine schöne Zukunft für diese Kinder aufzubauen. Das werden wir. Von ganzem Herzen und mit allem, was uns dafür zur Verfügung steht. Bleib stark, Sigal! Du bist nicht alleine!

Die Geschichte von den Therapiezentren ist Teil des Zyklus: Facetten der Wiederherstellung.
Brigitte Nussbächer und ihr Mann Harald Bottesch sind regelmäßig in Israel. Aktuell ist ihr Schwerpunkt Familien zu unterstützen, die von dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 direkt betroffen waren: Witwen und Waisen, Traumatisierte und Evakuierte. Bei ihrem letzten Israel-Einsatz im April 2025 haben sie erneut Betroffene besucht und Verbindungen mit spezialisierten Organisationen vor Ort geknüpft um spezifisch, langfristig und nachhaltig zu helfen.

Weitere Artikel von Brigitte B. Nussbächer unter: www.arc-to-israel.org/artikel