Rony & Ofer: Innere Stärke

Teil 2 aus dem Zyklus: Facetten der Wiederherstellung (Evakuierte)

Von Brigitte B. Nussbächer

Rony und Ofer haben ihr Leben lang Segensspuren in ihrem Umfeld hinterlassen. Ihr Mut und ihr Einsatz in schwierigsten Situationen hat viele gerettet. Auch am 7. Oktober 2023. Solange Israel über so großartige Menschen verfügt, wird es immer Hoffnung und eine Zukunft geben.

Manchmal begegnet man Menschen, die eine verborgene innere Stärke haben. Man sieht es ihnen nicht an, denn sie tragen ihren Mut nicht sichtbar vor sich her, aber er ist da, immer wenn er gebraucht wird. Still und unauffällig tragen sie schwere Lasten und werden zu Rettern – für die, die in ihrem Umfeld sind. Solche Menschen sind Rony und Ofer.

Wir haben sie erstmalig im April 2024 getroffen. Vor dem 7. Oktober haben sie in Kerem Schalom (deutsch: Weinberg des Friedens) gelebt. Doch der Name ist ein Wunschprogramm, das leider nicht zu Realität geworden ist, denn der kleine Kibbuz liegt nur 30 Meter von der Grenze zum Gazastreifen und 300 Meter von Ägypten entfernt. Auch Kerem Shalom wurde am 7. Oktober brutal von Hamas-Terroristen überfallen.

Die einsame Straße

Als wir im April 2024 in Israel sind, um uns mit eigenen Augen ein Bild von der Lage zu machen und darüber zu berichten, erklären sich Rony und Ofer bereit uns Kerem Schalom zu zeigen. Es ist unsere letzte Reise in den Süden in dem Jahr und sie bringt uns in den Vorhof der Hölle, denn die Stadt Rafah, in der sich Terroristen und Flüchtlinge aus Gaza drängen, ist nur einen Kilometer weit. Man kann vom Aussichtspunkt des Kibbuz problemlos in die benachbarten Länder und auf Rafah sehen – sofern man bereit ist, sich zur Zielscheibe zu machen. Es ist der Zeitpunkt kurz vor dem iranischen Angriff am 14. April und vor dem Einrücken der israelischen Armee in Rafah im Mai.

Es wird eine gespenstische Fahrt. Die Straßen hier im evakuierten Süden sind sowieso sehr leer. An diesem Tag scheinen wir die einzigen zu sein, die sich auf den Weg gemacht haben. Wir wurden am Vortag vom Deutschen Auswärtigen Amt kontaktiert. Es wird uns empfohlen, in der Nähe des Bunkers zu bleiben und darin Wasser, Lebensmittel und Medikamente vorzubereiten. Wir haben in unserem Hotel gefragt, wo sich dieser befindet. Es wurde uns ein Lagerraum gezeigt, der verstärkte Wände und eine Metalltüre hat – unser provisorischer Schutzraum.

Die Schlagzeilen in den israelischen Medien lauten: „Israel bereitet sich auf einen direkten Raketenangriff aus dem Iran innerhalb von 24 bis 48 Stunden vor!“ Washington weist seine Mitarbeiter und Diplomaten an, ihre Domizile nicht zu verlassen. Egal in welche Medien man sieht, überall schreien einem die Warnungen entgegen. Doch Rony und Ofer sagen den Termin nicht ab, obwohl sowohl sie, als auch wir aus Jerusalem, eine mehrstündige Anfahrt haben. Für sie ist es ein ganz praktisches Beispiel, wie man der Gefahr trotzt und sich der Gewalt nicht beugt. Gerade als Bewohner der Grenzregion haben sie lange Erfahrung damit.

Für uns ist so eine Situation ein absolutes Novum. Wann wurde einem in den letzten 70 Jahren in Westeuropa empfohlen, sein Haus wegen der Gefahr eines militärischen Angriffs nicht zu verlassen? Aber wir sind nicht als Touristen hier. Wir sind mit dem Ziel gekommen, uns mit Israel eins zu machen, anzupacken und zu helfen, wo wir können; Zeitzeugen zu sein. So entscheiden wir, trotzdem zu fahren.

Und erkundigen uns, was wir tun sollen, wenn uns ein Angriff auf dem Weg überrascht: das Fahrzeug verlassen, sich auf den Boden legen und den Kopf mit den Händen schützen. Auf Autobahnen und Überlandstraßen gibt es sonst keine Schutzmöglichkeiten. So „gerüstet“ machen wir uns auf.

Auf dem Weg nach Kerem Schalom stoßen wir auf zwei Militärkontrollen. Wir müssen uns ausweisen und erklären, warum wir da sind. Wir sehen in lauter staunende, ungläubige Gesichter. Bei der zweiten Kontrolle reichen unsere Angaben nicht aus. Ich rufe Ofer an, der den Militärs die Situation auf Hebräisch erklärt und bestätigt, dass wir mit ihnen den Kibbuz, der zur militärischen Sperrzone gehört, besuchen dürfen. Die Soldaten entspannen sich, lächeln und schließlich erlauben sie uns weiter zu fahren. Man hat das Gefühl, jeglichen Schutz im wahrsten Sinne des Wortes hinter sich gelassen zu haben.

Wir treffen Rony und Ofer am Eingang zum Kibbuz und können es kaum glauben: blühende Bäume, Vogelgezwitscher – eine absolute Idylle empfängt uns. Auf den ersten Blick glaubt man im in einem Garten Eden zu sein – auf den zweiten merkt man, dass es keiner mehr ist. Und wir sind mit ihnen ganz alleine hier – alle Einwohner wurden nach dem Massaker evakuiert. Sie erzählen uns ihre Geschichte.

Einst ein Garten Eden

Kerem Schalom ist ein kleiner Kibbuz mit 230 Einwohnern gewesen. Aufgrund der extrem exponierten Lage, direkt an zwei Grenzen, gibt es hier nicht nur einen Zaun, sondern eine 6 Meter hohe Betonmauer. Diese Wand wurde an vier Stellen von Terroristen am Morgen des 7. Oktober weggesprengt (u. a. die weiße und die drei intensiv rosa Platten). Glück im Unglück war die Uhrzeit, zu der es geschah: eine halbe Stunde später wären viele in der Synagoge gewesen. Aber so wurde der Einbruch schnell bemerkt, allerdings herrschte Verwirrung, weil die Terroristen israelische Uniformen trugen und so, auf Entfernung, nur schwer von den Israelis zu unterscheiden waren.

Insgesamt über 200 Hamas Männer stürmten in Wellen in den Kibbuz – aber im Unterschied zu anderen Kibbuzim trafen sie hier auf Widerstand. Der Chef des Sicherheitsteams von Kerem Shalom hatte sich – auf eigene Verantwortung – der Anweisung des Verteidigungsministeriums widersetzt, die Waffen im Waffenraum zu lagern. So kam es, dass sich die Sicherheitskräfte sofort verteidigen konnten. So aussichtlos die Situation schien, sie hörten nicht auf sich zur Wehr zu setzen, obwohl sie zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen waren. Stunden lang herrschte ein erbitterter Kamp. Trotz aller Gegenwehr wurde erheblicher Schaden angerichtet: an vielen Stellen sind Einschüsse zu sehen.

Das Wunder von Kerem Shalom

Auch Menschen wurden verletzt. Sogar sehr schwer. Und hier beginnt die ebenso dramatische, wie berührende Geschichte von Rony und Ofer. Beide sind medizinische Ersthelfer. Als sie verständigt wurden, dass dringende medizinische Hilfe gebraucht wird, reagieren die beiden mit unglaublicher menschlicher Größe. Anstatt sich um ihre eigene Sicherheit zu sorgen, verlassen sie ihren Bunker und bahnen sich durch den Kugelhagel der Terroristen einen Weg zu den Verletzten. Rony erzählt, dass sie nie im Leben solche Todesangst hatte, wie an jenem Tag. Doch es gelingt ihnen, die Verwundeten zu erreichen und sie kämpfen um deren Leben – erfolgreich.

Nach sieben Stunden geht die Munition im Kibbuz zu Ende. Die Lage ist verzweifelt. Doch dann trifft das Militär ein – gerade noch rechtzeitig und deutlich früher als in den andere Ortschaften, weil sich der Sicherheitschef von Kerem Shalom schon am Morgen direkt mit der Armee in Verbindung gesetzt hatte. Langsam bringen die Soldaten alle Einwohner, mit Geleitschutz, in das Ortszentrum. Große Erleichterung bei jedem der eintrifft, auch wenn etliche verletzt sind. Rony möchte vermeiden, daß die Kinder einen weiteren Schock bekommen und wischt deshalb das Blut der Verwundeten auf. Sie ist Lehrerin, Kunsttherapeutin und hat früher Kurse gegeben. Sie kann Kinderseelen gut einschätzen und kennt sich mit Traumata aus. Deshalb übernimmt sie diese traurige Aufgabe, doch danach hat sie lange das Gefühl, selber nicht mehr sauber werden zu können.

Mit dem Bus werden die Evakuierten nach Eilad, in den Süden, gebracht. Auf der Fahrt kümmert sich Rony um die Kinder – das lenkt sie ab. Später kommt der Tiefpunkt: an die nächsten fünf Tage hat sie keine Erinnerung mehr.

Ihre Botschaft an die Welt ist: macht eure Augen auf und begreift das Gedankengut, dass hinter diesen Taten steht. Es kann und wird sich an anderer Stelle erneut zutragen, wenn es nicht bekämpft wird. Ihre dringende Bitte an uns ist, dass, was wir gesehen und erkannt haben, weiter zu geben. Wir versprechen ihre Geschichte auf unserer Website ARC to Israel zu publizieren.

Sie haben so unaufgeregt und selbstverständlich erzählt, dass es dauert, bis wir verstehen, wie überaus mutig und unerschrocken sie tatsächlich gehandelt haben. Und was für ein Wunder es ist, dass in Kerem Shalom nur zwei Menschen von den Terroristen getötet wurden. Dass kein einziger entführt wurde! Auch die Zerstörung hier im Ort ist im Vergleich zu den Kibuzzim Nir Oz oder Kfar Azza, die wir noch zu sehen bekommen, deutlich geringer. Das Ergebnis von Wundern, aber auch von klugen Entscheidungen, Einsatzbereitschaft, Mut und Kühnheit.

Rony und Ofer retteten am 7. Oktober Terroropfern das Leben. Foto privat

Was uns bei der Begegnung mit ihnen auffällt: sie sind von allen, die wir besucht haben, diejenigen, die sich nicht nur um ihre eigene Sicherheit gekümmert haben, sondern an andere dachten und bereit waren, sogar ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um ihnen zu helfen. Und sie wirken stärker und positiver auf uns, als alle, die ihren Schutzbunker nicht verliessen. Jetzt stellt sich die Frage: Waren sie in der Lage, sich um andere zu kümmern, weil sie stark sind, oder ist es die Fürsorge für andere, die sie am Ende selber stärkt?

April 2025

Seither sind 18 Monate vergangen. Heimkehren konnten sie noch nicht. Nach drei Monaten in Eilad wurden sie nach Ashalim umgesiedelt, einem kleinen Ort 35 km südlich von Beer Sheva – mitten in der Negev-Wüste. Rony hat hier wieder Arbeit gefunden, doch die läuft im Sommer 2025 aus. Sie möchten zurück nach Kerem Schalom ziehen. Sie haben sich seinerzeit in den Kibbuz verliebt, ohne zu berücksichtigen, wie gefährlich die Lage ist und diese Liebe ist geblieben. Im Augenblick haben sie noch keine Perspektive für die Zukunft: der Krieg dauert an, weil die israelischen Geiseln noch nicht befreit werden konnten und weil die Hamas nicht bereit ist, sich zu ergeben. Das macht alles sehr schwer.

Wiedersehen im April 2025. Foto privat

Wir treffen sie im April 2025 in Jerusalem und sind ihnen sehr dankbar, dass sie den weiten Weg auf sich genommen haben. Wir sitzen bei einem einfachen Abendessen bei uns im Hotel zusammen. Und es ist erstaunlich: obwohl wir sie erst seit einem Jahr kennen und die meiste Zeit nur online verbunden sind, ist es, als würde man sehr gute alte Freunde treffen. Da ist Verbundenheit, Herzlichkeit und eine große Freude über das Wiedersehen. Wir erzählen viel über alles mögliche – es ist wunderbar, sich so offen auszutauschen.

Rony erklärt uns, nach was für Kriterien in Israel jemand als Freund gilt. Sie meint: nach einem Verlust, während der Shiva (Trauer) kommen alle möglichen Menschen und bekunden ihr Beileid. 30 Tage später, ein Meilenstein in der Trauerzeit, sind es meistens schon weniger. Wenn das Jahr voll wird, gibt es einen weiteren Meilenstein – und wer dann immer noch an der Seite der betroffenen Familie steht, der ist ein wahrer Freund. Sie schaut uns an, lächelt und meint: ihr seid auch nach einem Jahr wieder gekommen.

Als wir fragen, wie es ihnen geht, meint Rony aufrichtig, dass sie müde ist. Müde dieses Lebens in einem undefinierten Zwischenstadium, ohne die Möglichkeit wieder neu durchstarten zu können, müde vom Warten auf ein Ende des Krieges, müde der Improvisationen. Und der Wüstenstaub macht ihr zu schaffen. Ihre Sätze werden immer und immer wieder durch Husten unterbrochen. Sie sehnt sich nach frischer, klarer Luft. Aktuell führen sie ein Leben in einem Niemandsland ohne Zeithorizont. Müssen sie sich darauf einstellen noch lange in einem Übergangsheim zu leben? Macht es Sinn, da, wo sie sind, zu versuchen Fuß zu fassen? Und würde heimisch werden, wenn es stattfinden würde, einer Resignation gleichkommen? Würden sie damit ihren Traum, zurückzukehren, aufgeben?

Und dann erfahren wir, dass die Übereinkunft der Regierung mit den Vermietern in deren Immobilie sie zurzeit eine kleine 50 qm Wohnung haben, im Juni 2025 ausläuft. Es ist ein Schock, das zu hören, denn der Krieg dauert an und ihr Kibbuz Kerem Schalom ist nicht wieder hergestellt. Wie sie sagen, gilt diese Frist für alle Evakuierten innerhalb Israels und bedeutet, dass mehr als 100.000 Menschen nicht wissen, wo und wie sie ab Juni weiterleben sollen. Als vor 18 Monaten die Abkommen geschlossen wurden, hat wohl niemand damit gerechnet, dass sie so lange eine Ersatzbleibe brauchen würden. Noch nie seit der Gründung des jüdischen Staates, hat Israel solange Krieg führen müssen.

Vermutlich werden sie in eine andere provisorische Unterkunft umziehen müssen und es gibt aktuell wenig, was sie dafür oder dagegen tun könnten. Unter Umständen wird es wieder ein anderer Ort, wieder eine andere Gemeinschaft. Sie sind zu Heimatlosen geworden und sehnen sich nach nichts mehr, als endlich wieder einen Ort zu haben, der ihr Zuhause ist. Den sie aufbauen und herrichten können. Wo sie ein Bleiberecht haben. Es ist für uns, die wir nie Vergleichbares erlebt haben, kaum vorstellbar, wieviel Geduld und Durchhaltevermögen den evakuierten Familien in Israel abverlangt wird.

Und trotzdem sagen sie: am Ende wird alles gut werden und wir werden durch diese Erfahrung stärker werden. Nur wissen sie nicht, wie lange es noch dauern wird…

Unbeirrter Einsatz

Es ist erstaunlich, was Rony und Ofer geleistet haben und leisten. Wie sie immer und immer wieder selbstlos bereit waren, für andere da zu sein und sie zu schützen. Wie sie ihre Erfahrung und ihre Begabung eingesetzt haben – zum Besten der Menschen um sie herum. Ihre Weitsicht und die Maßnahmen, die sie auf den Weg brachten, haben viel bewirkt. Wir sind voller Hochachtung für das, was sie tun.

Zwischen 2011 und 2015 war Ofer der Sicherheitschef des extrem exponierten Kibbuz Kerem Schalom. Die große Verantwortung, die ständige Anspannung, die traumatischen Erlebnisse haben ihm viel abverlangt. Raketen, Mörserangriffe, brennende Autoreifen, Branddrachen die über die Grenze kamen; Terrortunnel, durch die Menschen aus Kerem Schalom entführt wurden, wie seinerzeit Gilad Shalit, prägten seinen Alltag. 2014 zerfetzte eine Granate seinen Freund. Ein Jahr danach gab er die Verantwortung ab.

Rony & Ofer initieren einen Sanitäterkurs für die gesamte Region Eschkol. Foto privat

Seinerzeit haben er und Rony auch einen Sanitäter Kurs für Mitglieder der Kibbuzim in der Grenzregion neben Gaza initiiert. Durch diese ausgebildeten Fachkräfte, konnte seither und auch am 7. Oktober vielen direkt vor Ort geholfen werden, Leben wurden gerettet. Auch hier haben die beiden eine langfristige Segensspur hinterlassen.

Auch jetzt dienen sie ihrem Land. Still und ohne Aufheben davon zu machen, aber mit unglaublicher Loyalität. Die Überzeugung, dass sie selbst Verantwortung übernehmen müssen und einen Beitrag zu leisten haben, treibt die beiden an. Solange Israel über Menschen mit so einer großartigen Einstellung verfügt, wird es immer Hoffnung und eine Zukunft geben.

Auf Wiedersehen im nächsten Jahr, liebe Rony, lieber Ofer. Danke, dass ihr weiter durchhaltet.

Auf Wiedersehen im nächsten Jahr. Foto privat

Die Geschichte von Rony und Ofer ist Teil des Zyklus: Facetten der Wiederherstellung. Brigitte Nussbächer und ihr Mann Harald Bottesch sind regelmäßig in Israel. Aktuell ist ihr Schwerpunkt Familien zu unterstützen, die von dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 direkt betroffen waren: Witwen und Waisen, Traumatisierte und Evakuierte. Bei ihrem letzten Israel-Einsatz im April 2025 haben sie erneut Betroffene besucht und Verbindungen mit spezialisierten Organisationen vor Ort geknüpft um spezifisch, langfristig und nachhaltig zu helfen.

Weitere Artikel von Brigitte B. Nussbächer unter: www.arc-to-israel.org/artikel