Verwundetes Israel – Das Spannungsfeld (Teil 2)

Von Brigitte B. Nussbächer

Wie wir Israels Kampf mit der Hamas sowie den Angriff des Irans hautnah erleben und mit welchem Auftrag wir schließlich wieder nach Deutschland zurückkehren. Unsere Israel – Eindrücke, Begegnungen und Erfahrungen im April 2024.

Teil 1 des Artikels „Das Spannungsfeld“ mit den Erlebnissen der ersten Tage unserer Reise finden Sie hier.

Jerusalem nach dem iranischen Angriff. Foto privat

Vorboten des iranischen Angriffs

Während der fünf Tage, seitdem wir in Israel sind, werden die Drohungen betreffs des iranischen Angriffs immer lauter. Am Freitag, den 12. April wird es dann ganz konkret. Wir werden vom Deutschen Auswärtigen Amt kontaktiert. Es wird uns empfohlen, in der Nähe des Schutzraumes zu bleiben und darin Wasser, Lebensmittel und Medikamente vorzubereiten. Die Schlagzeilen in den israelischen Medien lauten: „Israel bereitet sich auf einen direkten Raketenangriff aus dem Iran innerhalb von 24 bis 48 Stunden vor!“ Washington weist seine Mitarbeiter und Diplomaten an, ihre Domizile nicht zu verlassen. Egal in welche Medien man sieht, überall schreien einem die Warnungen entgegen.

Wir haben für Freitag Besuche bei von dem Krieg betroffenen Familien geplant, die uns die Ortschaft zeigen wollen, aus der sie vor sechs Monaten evakuiert wurden: Kerem Shalom, ganz im Süden Israels – mehr als 2 Stunden Fahrt entfernt. Sie wünschen das, trotz der bedrohlichen Lage. Ein ganz praktisches Beispiel, wie man der Gefahr trotzt und sich der Gewalt nicht beugt. Gerade die Bewohner der Grenzregion haben lange Erfahrung damit. Aber erst, nachdem wir die beeindruckende Geschichte von Roni und Ofers Einsatz als medizinische Ersthelfer während des Hamas Angriffs gehört haben, (über die ich bald im Artikel „Das Erbe des 7. Oktober“ detailliert berichten werde), verstehen wir richtig, wie überaus mutig und unerschrocken sie tatsächlich sind.

Für uns ist so eine Situation ein absolutes Novum. Wann wurde einem in den letzten 70 Jahren in Westeuropa empfohlen, sein Haus wegen der Gefahr eines militärischen Angriffs nicht zu verlassen? Aber wir sind nicht als Touristen hier. Wir sind mit dem Ziel gekommen, uns mit Israel eins zu machen, anzupacken und zu helfen, wo wir können; Zeitzeugen zu sein. So entscheiden wir, trotzdem zu fahren.


Tatsächlich finden am 12. April „nur“ Angriffe aus dem Libanon auf Galiläa mit über 40 Raketen statt und in Samaria (Westbank) wird ein israelischer Hirtenjunge von Arabern entführt und zu Tode gesteinigt. In Folge kommt zu heftigen Zusammenstößen zwischen Palästinensern und der IDF, die den Jungen sucht.

Der Countdown läuft – den Kämpfen so nah

Sofern das überhaupt möglich ist, werden die Drohungen am nächsten Tag, Samstag, den 13. April noch heftiger. Auch Bekannte aus Israel schreiben uns, dass sie sich nicht mehr von ihrem Schutzraum wegbegeben. Wir haben uns in unserem Hotel erkundigt, was wir tun können. Es wurde uns ein Lagerraum gezeigt, der verstärkte Wände hat und eine Metalltüre. Natürlich können wir hier nichts vorbereiten oder für den Notfall lagern.

An diesem Tag sollten wir nach Kfar Azza fahren, einem der am stärksten zerstörten Kibbuzim neben dem Gazastreifen. Ralph wollte uns die tragische Geschichte des Ortes erzählen, in dem er und seine Familie die letzten 44 Jahre wohnten. Wir fragen, ob wir trotz der Warnungen kommen sollen. Wir möchten ihn auf keinen Fall in Gefahr bringen – auch für ihn sind es mehrere Stunden Fahrt. Seine Antwort ist ein deutliches Ja, er möchte sich dem Terror nicht beugen. Wir fahren also wieder in Richtung Süden los. Am Schabbat gibt es sowieso wenig Verkehr, aber jetzt ist kaum ein Auto auf den Straßen. Wir haben uns erkundigt, was wir tun sollen, wenn uns ein Angriff auf dem Weg überrascht: das Fahrzeug verlassen, sich auf den Boden legen und den Kopf mit den Händen schützen. Auf Autobahnen und Überlandstraßen gibt es sonst keine Schutzmöglichkeiten.

In Kfar Azza hören wir deutlich Maschinengewehrfeuer, Bomben und Drohnen im nahen Gaza. Teilweise ist es so laut, dass es schwer wird, Ralph zu verstehen. Er zuckt nicht mit der Wimper – uns fällt es schwerer, so gelassen zu sein. All das, was wir bisher nur aus Schilderungen und Filmen kannten, umgibt uns jetzt. Wir gehen über verbrannten Boden und stehen vor Ruinen – begleitet von der düsteren Schicksal-Symphonie der Kämpfe ganz in der Nähe. Ab jetzt sprechen wir als Augenzeugen.


Die Besuche dieser beiden Tage (siehe nächster Artikel: „Das Erbe des 7. Oktober“) werden zu unschätzbaren Erfahrungen für uns. Mitten in diesem hochgeladenen Spannungsfeld – zwischen den Folgen des Massakers aus dem Oktober und dem bevorstehenden Angriff aus dem Iran – Betroffene zu treffen, sich zusammen mit ihnen dem Schmerz, der Gefahr, den Befürchtungen zu stellen, verändert unsere Wahrnehmung und uns selber!

Eine surreale Schicksalsnacht

Wir kommen unbeschadet am Abend wieder in Jerusalem an und treffen uns zum Abendessen mit Werner Hartstock aus Deutschland, der hier eine Solidaritätsreise leitet. Gegen 22:00 Uhr sind wir wieder in unserem Hotel.

Was danach geschieht, ist aus heutiger Perspektive schon wieder surrealistisch.

Das Heimatfrontkommando verschärft die Sicherheitsanweisungen.

Um 22:00 Uhr hören wir, dass das GPS in Jordanien, Irak, Syrien und Libanon nicht mehr funktioniert.


Um 23:00 Uhr kommen die ersten Meldungen, dass der Iran seinen Angriff auf Israel begonnen hat und dass Israel seinen Luftraum schließt. Um 23:30 bestätigt dann der israelische Militärsprecher den Angriff im Fernsehen. Die Hoffnung, dass es sich nur um arabische Fake-News gehandelt hätte, ist damit dahin. Mit der ersten Angriffswelle von „Kamikaze“-Drohnen, sollten Israels Luftverteidigungssysteme Iron Dome und David’s Sling überlastet werden, damit später Wellen dutzender ballistischer Raketen das System durchbrechen.

Ein Radarbild zeigt, dass es keinerlei Luftverkehr mehr im Nahen Osten gibt und die iranischen Raketen und Drohnen Israel ungehindert erreichen können. Um Mitternacht wird bekannt gegeben, dass die dritte Welle von unbemannten Drohnen nach Israel aus dem Iran gestartet ist. Diese Drohnen sind 200 kg schwer, befördern bis zu 60 kg Sprengstoff und haben eine Reichweite bis 2.000 km. Man kann ausrechnen, wann diese Flugkörper Israel erreichen werden.

Wann erreichen die Flugkörper Jerusalem?

In Jerusalem hört man viele Kampfflugzeuge aufsteigen. Das Brummen am Himmel wird immer intensiver.

Wir haben eine Tasche mit unseren wichtigsten Dingen und Wasser gepackt. Diese werden wir in den sogenannten Schutzraum mitnehmen, wenn die Sirenen zu heulen beginnen. Eine kleine Hoffnung besteht, dass Jerusalem nicht im Fokus des Angriffs steht, weil die Gefahr, die Al Aksa Moschee zu treffen, groß wäre.

Es ist der Augenblick, wo uns eine seltsame Ruhe überkommt. Als wir diese Reise planten, waren wir uns der potentiellen Gefahr bewusst und haben sie akzeptiert, weil es uns wichtig war, den Menschen in Israel zu zeigen, wie sehr wir sie lieben und dass wir, unabhängig der Umstände, zu ihnen stehen. Wir haben unser Testament aktualisiert und alles Offene abgeschlossen. Auch meine Artikel für Pessach und zum Unabhängigkeitstag sind jetzt schon auf unserer Website ARC to Israel veröffentlicht und an andere Plattformen zur Veröffentlichung übergeben, genauso wie das Material für das geplante Israel Event am 14. Mai. Meinen Bericht hier aus Israel habe ich jeden Tag aktualisiert und an meine gute Freundin Ardelle geschickt, mit der Bitte im schlimmsten Fall für eine posthume Veröffentlichung zu sorgen. Wir sind also vorbereitet.

Wir legen unser Leben noch einmal ganz bewusst in Gottes Hand – und gehen danach zu Bett. Es ist 00:21 und es gibt nichts mehr, was wir Sinnvolles tun können und wir möchten nicht als Nervenbündel dasitzen und auf das Eintreffen der Drohnen und Raketen warten, das jederzeit, aber auch erst Stunden später, erfolgen kann. Allerdings bleiben wir voll angekleidet. Mir gehen die Bilder von dem 7. Oktober nicht aus dem Kopf: wie die Hamas die armen Menschen in Pyjamas entführte. Was auch immer geschieht, einen Rest Würde möchte ich versuchen zu behalten.

Unglaublich aber wahr: es gelingt uns einzuschlafen. Um 01:45 Uhr hört man drei laute, harte Explosionen. Der Iron Dome schießt Raketen über Jerusalem ab. Die Sirenen beginnen zu heulen. Wir haben ein paar Sekunden Zeit, um den provisorischen Schutzraum zu erreichen – in dem wir die Einzigen sind.


Aber nicht alleine! Die internationale Gebetsgruppe, die wir am 8. Oktober gegründet haben, steht uns treu zur Seite – wir kommunizieren über eine Stunde lang intensiv via WhatsApp.

Das Wunder

Was in dieser Nacht geschah, ist ein Wunder. Die Luftabwehr Israels kämpfte wie ein Löwe, um das Land zu schützen und es gelang, fast jede der über 300 ankommenden feindlichen Drohnen und Raketen abzufangen. Das ist unglaublich und beispiellos. Nur ein Kind wurde durch herabfallende Granatsplitter verletzt und eine Militärbasis wurde leicht beschädigt.

Diese Nacht wird in die Geschichtsbücher eingehen und wahrscheinlich an Militärakademien gelehrt werden. Aber die Lektion bleibt unvollständig, wenn das Wirken Gottes nicht genannt wird…

Tatsächlich gelingt es uns in den frühen Morgenstunden noch einmal einzuschlafen. Doch als wir aufstehen, spüren wir die Nachwirkungen der Nacht: als die Anspannung nachlässt, fühlen wir uns völlig ausgelaugt.

Der Tag danach

Das Leben geht weiter. Für viele sogar erstaunlich normal. Als wir uns am nächsten Morgen auf den Weg zu Westmauer machen, sind die Straßen nicht leerer als in den Tagen zuvor. Aber es gibt natürlich auch andere, die sich schon seit Tagen nicht mehr getrauen, die Nähe ihrer Bunker zu verlassen und deshalb auch Termine mit uns abgesagt haben.

Jerusalem ist am Morgen nach dem Angriff unversehrt. Fotos privat

Umso mehr freuen wir uns über die Treffen, die ganz normal stattfinden: zum Bespiel am nächsten Abend mit Anat und Aviel Schneider von Israel Today. In den ganzen Jahren haben wir viel von Aviel über geschichtliche und politische Hintergründe von Israel gelernt. Er sieht jetzt, nach dem historischen Erfolg in der Abwehr der iranischen Raketen in Zusammenarbeit mit regionalen Partnern, eine einmalige Chance, diese Kooperation weiter auszubauen. Aber wir spüren auch die Narben, die diese Zeit in den Seelen unserer Freunde hinterlassen hat. Monatelang mussten sie um das Leben ihrer drei Söhne und ihres Schwiegersohns bangen, die alle an der Front gedient haben.


Als wir gehen, singt eine kleine Band an einer Ecke. Es sind schöne, melodische Lieder. Um sie herum hat sich ein größerer Kreis gebildet, die jungen Leute hören zu und klatschen. Eigentlich wollen sie nur in Frieden leben, ohne von anderen dabei gestört zu werden. Trotz aller schmerzlichen Erfahrungen und obwohl sie des Krieges so müde sind, geben sie nicht auf. Wieder einmal ziehen wir den Hut vor diesem Überlebensmut und dieser Resilienz. Wir haben es von vielen gehört in diesen Tagen: diese junge Generation ist die Hoffnung Israels. Sie wird es schaffen, Krieg und Leid zu überwinden.

Für die Zukunft

An unserem letzten Tag in Jerusalem vor der Abreise wird uns das Herz wegen dem Abschied schwer. Uns beschäftigen Gedanken, wie wir hier auch weiterhin ein Segen sein können. Was dieser Tag noch alles bringen sollte, ist uns in keinster Weise bewusst.

Wir erfahren von einem Projekt, das traumatisierten Soldaten der IDF gewidmet ist. Sie sollen psychologische Betreuung erhalten, um das Schreckliche, was sie gesehen und erlebt haben zu überwinden. Viele von denen, die in den ersten Tagen und Wochen nach dem Massaker dafür verantwortlich waren, die Verwundeten und Leichen zu bergen, sind bis heute über die furchtbaren Eindrücke nicht hinweggekommen. Wie grauenhaft die Bilder waren, mit denen sie konfrontiert wurden, kann man nur erahnen, wenn man berücksichtigt, dass nach dem Massaker über 50 der Besucher des Nova-Festivals Selbstmord begangen haben, weil sie mit solchen Erinnerungen nicht weiterleben konnten.

Ebenso gibt es viele, die durch den mörderischen Häuserkampf in Gaza, wo die humanitären Einrichtungen von den Terroristen missbraucht werden und überall Fallen lauern, ebenso belastet sind.

Spontanes Interview mit Soldaten. Foto privat

Dieses Projekt werden wir zukünftig mit unserem Verein ARC to Israel unterstützen. Auch werde ich versuchen durch Artikel über die Soldaten der IDF mehr Verständnis dafür zu schaffen, wie besonders diese Armee ist und womit sie umgehen muss.

Spontan ergibt sich die Möglichkeit eines ersten Interviews. Diese jungen Männer gehören zur Golani Brigade, die als „die erste Brigade“ (die zum Einsatz kommt) bekannt ist und sind sehr stolz darauf. Ich erkundige mich, was für sie, als Soldaten der IDF, am wichtigsten ist. Die Antwort kommt prompt und von allen Seiten: die ethischen Standards und die Moral. Sie kämpfen für Leben, für Frieden, aus Liebe und um ihr Land, ihr Volk zu beschützen. Ich schaue in die Augen dieser jungen Männer. Ich sehe keinen Hass darin, nicht einmal Wut. Aber eine stille Trauer darüber, dass dieser Kampf nötig ist. Ich möchte wissen, was das Schwerste für sie ist: sie zucken die Schultern. Darüber denken sie nicht nach. Sie haben eine Aufgabe und die wollen sie so gut wie möglich erfüllen. Und sie betonen: wir kämpfen nicht gegen Zivilisten. Wir helfen Kindern und Frauen – auch im Feindesland. Leider wird dies oft missbraucht. Auf meine finale Frage, wie wir sie unterstützen können, bekommen wir, wie fast überall, wieder die Antwort: schildert, wie ihr uns erlebt habt. Erinnert die Welt daran, dass uns dieser Kampf aufgezwungen wurde und dass wir ihn zu Ende führen müssen, um danach in Frieden leben zu können.

Und wir treffen auch Sandy, die Leiterin von Bead Chaim.

Sandy hilft werdenden Müttern aus den zerstörten Ortschaften. Foto: Sandy Shoshani

Mit ihrer Organisation helfen sie evakuierten Frauen aus Israels zerstörten Ortschaften, die in dieser Zeit, ohne ein wirkliches Zuhause, Kinder zur Welt bringen. Seit dem 7. Oktober haben sie über 600 solche junge Mütter besucht und sowohl finanziell als auch persönlich unterstützt. Auch dies ist ein Projekt, das wir zukünftig mit Spenden fördern werden, um diesen jungen Müttern und den neugeborenen Babys zu helfen, aus der Asche ein neues Leben aufzubauen. 

Diese Projekte und das Wissen, dass wir auch aus der Ferne weiterhin mithelfen können, Lasten zu tragen und das Leid zu lindern, machen uns den Abschied ein wenig leichter. Gute Freunde meinen, wir werden früher als wir es ahnen, wieder in Israel sein. Wir hoffen es – denn unser Herz ist hier zu Hause.

Wir kommen mit dem Auftrag zu berichten zurück. Foto privat

Aber wir kommen auf jeden Fall mit einem klaren Auftrag nach Deutschland zurück: auf unserer Website ARC to Israel, bei Israel-Events und in Kooperation mit anderen Organisationen zu berichten, was wir gesehen und erlebt haben.

Als erstes schreibe ich die erschütternde Geschichte der getöteten Geisel Maya, die wir am letzten Abend ganz unerwartet erfahren: „Bring Maya Home Now

Dies ist der zweite Artikel, der die Erlebnisse dieser Tage im April, aus unserer Perspektive widergibt.

Und das tragische Schicksal der Gaza Grenzregion und die persönlichen, erschütternden Erfahrungen ihrer Bewohner werden ihr eigenes Mahnmal aus Worten im nächsten Artikel erhalten: „Verwundetes Israel – Das Erbe des 7. Oktober“.

Weitere Artikel von Brigitte B. Nussbächer unter:   www.arc-to-israel.org/artikel