Zehn Mythen über den Nahostkonflikt – und die historischen Fakten

(Stand: 09.11.2023 – von Harald Stutte – Redaktionsnetzwerk Deutschland)

Download am 27.12.2023 von https://www.rnd.de/politik/nahostkonflikt-zwischen-israel-und-palaestina-zehn-mythen-im-faktencheck-2KEMCLTVFNAJPFMU6ANDFYUSYI.html
(Eigene Formatierung und Hervorhebungen sowie Ergänzungen und Kommentierungen – Kursiv)

Der Nahostkonflikt hat die deutschen Straßen erreicht, wird verbal jedoch auch in Kantinen und am heimischen Abendbrottisch ausgetragen.

Jeder redet mit, aber viel Wissen ist nicht verbreitet, beklagen Politikwissenschaftler wie der Professor für Sicherheitsstudien Peter W. Neumann. Hier einige Mythen im Faktencheck.

„Dieser Konflikt hat eine unglaubliche Sprengkraft, er ist die Mutter aller Konflikte“, äußerte Peter R. Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London, jüngst im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).

Der Politikwissenschaftler beklagt enorme Wissensdefizite, die Region und den Konflikt betreffend, auch in der deutschen Gesellschaft. „Ich kann mich nicht dran erinnern, dass der Nahostkonflikt in meiner Schulzeit auch nur ansatzweise irgendwie behandelt wurde“, so Neumann, „und das hat sich bis heute nicht geändert“.

Dennoch haben alle dazu eine Meinung.

Ein Grund mehr, sich mit zehn verbreiteten Behauptungen kritisch auseinanderzusetzen.

1.      Israel ist eine Erfindung des Westens

Das ist historisch falsch. Im nur spärlich besiedelten „Palästina“ lebte auch nach der Zerstörung des jüdischen Tempels durch die Römer und der Vertreibung eines Großteils des jüdischen Volkes in die Diaspora permanent eine jüdische Bevölkerung, vor allem in Jerusalem. Dieser Bevölkerungsanteil wuchs nach der Gründung der zionistischen Bewegung und einer wachsenden Verfolgung jüdischer Menschen in Osteuropa zu Ende des 19. Jahrhunderts rasant. Die zionistische Bewegung wurde zur Keimzelle der ein halbes Jahrhundert später erfolgten Staatsgründung. Voraussetzung dafür wiederum war die Abstimmung über den UN-Teilungsplan für (das britische Mandatsgebiet) Palästina vom 29. November 1947.

Eine Mehrheit der Weltgemeinschaft – der Westen, der Ostblock, aber auch lateinamerikanische und asiatische Staaten – stimmten für eine Teilung des bis dato staatenlosen (britischen Mandatsgebietes) Palästinas proportional zur Besiedlung in einen jüdischen (56 Prozent) und einen palästinensischen (43 Prozent) Staat.

2.      Israel hat die Bildung eines Palästinenserstaates verhindert

Das ist falsch. Gemäß Teilungsplan proklamierten die Juden nach dem Ende des britischen Mandats über „Palästina“ auf dem ihnen zugesprochen Teil am 14. Mai 1948 die Gründung des Staates Israel. Die „palästinensische“[1] und maßgeblich durch die Anrainerstaaten vertretene arabische Seite lehnte die Gründung eines palästinensischen Staates auf dem ihnen zugesprochenen Territorium indes ab. Noch in der Nacht zum 15. Mai erklärten Ägypten, Saudi-Arabien, Transjordanien, der Libanon, der Irak und Syrien dem neuen Staat Israel den Krieg.

In diesem Unabhängigkeitskrieg, auch erster arabisch-israelischer-Krieg genannt, der erst im Januar 1949 endete, erzielte Israel erhebliche Gebietsgewinne – vor allem im westlichen Galiläa um Akko und im nördlichen Negev.

3.      Israel, Land der Juden

Seit der Gründung hat Israel einen großen muslimischen Bevölkerungsanteil, der gegenwärtig etwa 18 Prozent beträgt. Israelis muslimischen Glaubens genießen die vollen Bürgerrechte, sind lediglich vom Militärdienst freigestellt, dennoch dienen viele Muslime freiwillig im Militär. Hebräisch und Arabisch sind die offiziellen Sprachen in Israel. Zudem leben in Israel Christen, Drusen, Bahai. In der Knesset, dem israelischen Parlament, haben seit der Staatsgründung immer arabische Abgeordnete gesessen. 2021 war eine arabische Partei sogar Teil einer Regierungskoalition.

Der überwiegende Teil der arabischen Israelis steht dem Land loyal gegenüber, weiß zudem zu schätzen, freier und in größerem Wohlstand zu leben als in vergleichbaren arabischen Ländern der Region.

4.      Gaza und Palästina „befreien“

Aus dem von 1,4 Millionen Menschen besiedelten Gazastreifen zog sich das israelische Militär 2005 komplett zurück. Israelische Siedler dort wurden gegen ihren Widerstand vom israelischen Militär vertrieben. Seitdem ist Gaza zumindest frei von israelischer Besatzung. Die Fatah, die Partei von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, übernahm die Kontrolle im Gazastreifen, das hätte die Grundlage für die Bildung eines Palästinenserstaates sein können.

2006 gewann die radikalislamische Hamas, die Israel das Existenzrecht[2] abspricht und daher auch weder an Zweistaatenlösung noch an friedlicher Koexistenz interessiert ist, die Wahlen in den palästinensischen Autonomiegebieten. Die unterlegene Fatah verweigerte die Machtübergabe an die Hamas, daraufhin putschte die Hamas in einem innerpalästinensischen Bürgerkrieg im Gazastreifen die Fatah-Herrschaft hinweg, errichtete ein Schreckensregime und baute Gaza mit iranischer Hilfe zu einer waffenstarrenden Raketenbasis aus. Wie ein „freies“ Palästina einmal aussehen könnte, verdeutlicht der Blick nach Gaza.

5.      Eine Zweistaatenlösung scheiterte stets an Israel[3]

Falsch. 1993, in einer sehr intensiven Phase israelisch-palästinensischer Verhandlungen unter maßgeblicher Schirmherrschaft der USA unter Präsident Bill Clinton, lag eine Zweistaatenlösung unterschriftsreif auf dem Tisch – lediglich die heikle „Jerusalem-Frage“ und ein gefordertes Rückkehrrecht für palästinensische Geflüchtete blieben ausgeklammert. Israels Premierminister Izchak Rabin und der Vorsitzende der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) Jassir Arafat unterzeichneten die Vereinbarung.

Während der monatelangen Verhandlungsphase wurde der Friedensprozess durch Selbstmordanschläge und Bomben der Hamas gegen zivile israelische Einrichtungen permanent gestört. Auch das Massaker eines israelischen Rechtsaktivisten in Hebron mit 29 Todesopfern belasteten den Prozess. Dennoch: Das israelische Parlament ratifizierte das Abkommen, das palästinensische Parlament bis heute nicht. Die Störfeuer der Hamas und später (1995) das Attentat eines israelischen Rechtsradikalen auf Ministerpräsident Rabin beendeten alle Friedenshoffnungen.

Dennoch kam es im Juli 2000 unter Vermittlung von US-Präsident Clinton erneut zu Verhandlungen zwischen Arafat und dem neuen israelischen Premier Ehud Barak – mit den bis dato größten Zugeständnissen an die Palästinenser (Camp David II). Doch Jassir Arafat verweigerte die Unterschrift – der Besuch des israelischen Rechtspolitikers Ariel Sharon auf dem Tempelberg löste die 2. Intifada (Aufstand) aus, alle Verhandlungen stoppten.

6.      Zionismus gleich Terrorismus

Muslimische Israel-Kritiker, aber auch linke Aktivistinnen und Aktivisten setzen Zionismus mit Terrorismus und Rassismus gleich, berufen sich bei letzterem auf die UN-Resolution 3379. Diese war 1975 mit einer Mehrheit der UN-Teilnehmer vor allem dank der Unterstützung des Ostblocks und einiger Entwicklungsländer verabschiedet worden. UN-Generalsekretär Kofi Annan bezeichnete die Verabschiedung dieser Resolution 1998 als „Tiefpunkt in der Geschichte der Vereinten Nationen“. 1991 wurde die Resolution außer Kraft gesetzt.

Der Zionismus beschreibt eine Bewegung, die lediglich die Schaffung einer Heimstätte für das jüdische Volk in Nahost (Berg Zion) zum Ziel hat. Wer den Zionismus ablehnt, spricht sich damit gegen das Existenzrecht Israels aus. Der Zionismus ist bis heute zu einer Projektionsfläche für Verschwörungstheorien wie die antisemitischen „Protokolle der Weisen von Zion“ geworden.

7.      „Befreiungsbewegung“ Hamas

Sich selbst bezeichnet die Hamas als Befreiungsorganisation. Das Wort wurde aus dem Begriff

„Harakat Muqawama Islamiya“, gebildet und bedeutet so viel wie „islamische Widerstandsbewegung“. Doch schon die Charta vom 18. August 1988 verrät, dass es gar nicht um Befreiung geht: Als Hauptziel wird da die Zerstörung Israels durch den „Heiligen Islamischen Krieg“, Dschihad, genannt. Diesem destruktiven Ziel wird alles untergeordnet, auch das Leben des eigenen Volkes.

So verwundert es kaum, dass die Hamas in ihrer nunmehr 16-jährigen Alleinherrschaft im Gazastreifen für die dort lebenden Menschen nahezu nichts tut: Die Gehälter des aufgeblähten Verwaltungsapparats bezahlt das Emirat Katar, die Krankenhäuser werden von internationalen Hilfsorganisationen wie dem Roten Halbmond finanziert, die Versorgung der Zivilbevölkerung wird überwiegend vom UNHCR[4] bestritten. Schulen (wie auch einige Kliniken) bezahlt das UN-Palästina-Hilfswerk UNRWA.

Auf nahezu 500 Millionen Dollar wird die globale Firmenbeteiligung der Hamas geschätzt. Ihr Jahresbudget soll 300 Millionen Dollar betragen. Nahezu jeder Cent kann für den Krieg gegen Israel ausgeben werden.

8.      Zauberformel „Land für Frieden“, doch Israel verweigert das

Viele werfen Israel Unnachgiebigkeit im Umgang mit seinen palästinensischen und arabischen Nachbarn vor. Richtig ist, dass Israel mehr Gebiet hält, als alle bisherigen Teilungs- und Friedenspläne ihm bisher zugestanden haben. Ebenso richtig ist aber auch, dass Israel seit 50 Jahren zu Landrückgaben und Kompromissen bereit war, für die Rückgabe im Gegenzug den ersehnten Frieden aber nie bekommen hat. Entsprechend gering ist daher heute die Bereitschaft im Land, der Formel „Land für Frieden“ weiter zu vertrauen.

1977, nach drei verlorenen Kriegen, streckte Ägyptens Präsident Anwar al-Sadat die Hand in Richtung Israel aus. Beide Staaten schlossen im November 1978 in Camp David Frieden. Israel räumte daraufhin bis 1982 die 60.000 Quadratkilometer große Sinaihalbinsel. Die Idee „Land für Frieden“ hatte ihre erste Bewährungsprobe bestanden – bis heute.

Anders jedoch im Fall Libanon: Nach Jahrzehnten des Raketenbeschusses aus dem Südlibanon besetzte Israel ab 1978 einen Streifen bis zum Fluss Litani im Südlibanon. Erst im Jahr 2000 zog sich Israel vollständig aus dem Libanon zurück – woraufhin sich im Süden des Zedernstaates umgehend die von Iran gesteuerte Hisbollah-Miliz festsetzte und den Norden Israels regelmäßig mit Raketenbeschuss überzieht[5].

Ebenso brachte der 2005 erfolgte Abzug der Israelis aus Gaza keinen Frieden, sondern verschärfte die Sicherheitslage für Israel dramatisch, wie die Massaker vom 7. Oktober verdeutlicht haben.

9.      Pro-Palästina stellt nicht Israels Existenzrecht infrage

Israels Politik darf selbstverständlich kritisiert werden. Daher sind Proteste mit palästinensischen Flaggen kein Problem, auch auf deutschen Straßen nicht. Aber: Viele der Parolen sind problematisch und stellen in ihrer Einfachheit das Recht von fast zehn Millionen Israelis, in ihrem eigenen Staat zu leben, infrage. Beispiele: „From the river to the sea, Palestine will be free.“ Wer ein Palästina vom Fluss (Jordan) bis zum Meer (Mittelmeer) fordert, möchte Israel von der Landkarte löschen, weil hier die heutigen Grenzen Israels beschrieben werden.

Andere Parolen lauten „Stoppt den Genozid in Gaza“. Israel Völkermord zu unterstellen ist heuchlerisch und falsch. Israels Armee IDF ist nicht im Gazastreifen einmarschiert, um Menschen zu massakrieren. Das Ziel ist die Beseitigung der Hamas, die für die Massaker am 7. Oktober, durch die über 1400 Israelis starben, verantwortlich ist. Ein weiteres Ziel ist die Befreiung von rund 230 Geiseln[6], die sich seit dem 7. Oktober in der Hand der Terroristen befinden. Israels Armeeführung hat ein großes Interesse, in Gaza zivile Opfer zu vermeiden, jede Polarisierung und jede internationale Eskalation soll in dieser schwierigen Phase vermieden werden.

10.   Unrechtsstaat Israel

Israel ist die einzige funktionierende Demokratie der ganzen Region. In Israel herrscht Presse-, Meinungs- und Glaubensfreiheit. Einschränkungen, was zum Beispiel die Bewegungsfreiheit oder die Freiheit des Grundstückserwerbs betreffen, gelten lediglich für die Palästinenserinnen und Palästinenser im Westjordanland, im Gazastreifen sowie für die arabische Bevölkerung in Ost-Jerusalem. Sie alle sind keine Bürger und Bürgerinnen Israels und dürfen sich daher auch nicht im Land frei bewegen[7].

Menschen in Israel werden laut der israelischen Verfassung weder aufgrund ihrer Religion, noch aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder sexuellen Orientierung diskriminiert. In diesem Land der Vielfalt leben Nachkommen äthiopischer, aschkenasischer (europäischer) und sephardischer („orientalischer“) Juden.

Und sie gehören zu den zufriedensten Menschen der Welt: Laut dem Im World Happiness Report basierend auf einer Gallup-Umfrage waren Israelis 2023 mit 7530 Punkten hinter Finnland und Dänemark weltweit die glücklichsten Menschen – die Deutschen liegen auf Platz 16.

Israel ist ein hochmoderner Industriestaat, der vor allem mit Hightech-Produkten wie elektronischen Geräten, Softwarelösungen, Medizintechnik, Pharmazeutika, Cybersecurity und Telekommunikation am Weltmarkt vertreten und teils führend ist. Ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 52.170,71 Dollar pro Einwohner unterstreicht die enorme Leistungsfähigkeit der israelischen Wirtschaft, das Land ist (bezogen auf die Einwohnerzahl) damit wohlhabender als Deutschland (51.203,55 Dollar).

Noch eine Zahl, die das innovative Potenzial des kleinen Landes verdeutlicht: In den vergangenen 20 Jahren wurden allein neun Nobelpreise (Chemie und Wirtschaftswissenschaften) an Israelis verliehen – mehr als an die gesamten arabische Staatengemeinschaft seit es die Preise gibt.

Wie lebendig Israels Demokratie ist, zeigte sich, als zuletzt Hunderttausende Menschen wochenlang gegen die von der Rechtskoalition von Premier Benjamin Netanjahu beschlossene Verfassungsänderung[8] demonstrierten, die de facto eine Entmachtung der unabhängigen Justiz bedeutete[9].


[1] Eine „palästinensische“ Seite gab es damal defacto noch nicht. Es gab zu dem Zeitpunkt noch kein „palästi- nensisches Volk“ – die Menschen waren ethnisch gesehen i.d.R. Araber

[2] Nicht nur die Hamas, sondern auch die Fatah unter PA-Chef Abbas lehnt gemäß PLO-Statuten das Existenz- recht Israels ab.

[3] Defacto ist ja bereits die Ablehnung des UN-Teilungsplans von 1947 die erste Ablehnung der „Zweistaatenlö- sung“ durch die Araber / Palästinenser (vgl. Pkt. 1.)

[4] Sachlich richtig? Ist dies nicht ebenso das für die „Palästinensischen Flüchtlinge“ zuständige UNWRA?

[5] Dass die die seit dem bestehende Pufferzone überwachenden UNIFIL-Truppen nichts zur Befriedung der Grenz- region beigetragen haben, kann heute jeder sehen.

[6] Stand: 09.11.2023

[7] Dass die die seit dem bestehende Pufferzone überwachenden UNIFIL-Truppen nichts zur Befriedung der Grenz- region beigetragen haben, kann heute jeder sehen.

[8] Sachlich nicht korrekt: Die Proteste richteten sich anfangs nicht gegen eine „beschlossene Verfassungsände- rung“ (Israel hat keine Verfassung in Sinne des deutschen Grundgesetzes), sondern um eine „geplante Justizre- form“, deren Notwendigkeit selbst von der Opposition nicht grundsätzlich bezweifelt wird; Streitpunkt war vor allem der Umfang der Reform. Später richteten sich die Proteste pauschal gegen die gewählte Regierung von B. Netanjahu.

[9] Dies ist nur eine pauschale – nur halbwahre – Behauptung der Opposition, incl. des Obersten Gerichtes, welche seine eigene überzogene Machtstellung schwinden sah.